26. November – 19. Dezember 2014
Die westliche Aufmerksamkeit auf marokkanische Teppiche begann zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Ausstellungen in München und Paris präsentierten Kunsthandwerk aus der Region, wobei der Teppich eine prominente Rolle einnahm. Zur selben Zeit erwachte auch das Interesse zahlreicher Künstler wie Paul Klee, Henri Matisse, Wassily Kandinsky oder der Architekten Le Corbusier und Frank Lloyd Wright, sowie der Leute vom Bauhaus u.a. Marcel Breuer, Johannes Itten oder Gunta Stölzl. Eine gegenseitige Beeinflussung zwischen moderner Kunst und Teppichkultur ist Faktum, kann aber als Erklärung für die Motiventwicklung in Bezug auf den marokkanischen Teppich nur bedingt gelten. Zu abgelegen sind viele der Produktionsorte, an denen meist Berberfrauen diesem Handwerk nachgingen bzw. nachgehen, als dass man ihnen unterstellen könnte, sie hätten von Klee und den anderen gewusst. Doch hat man zur Zeit des französischen Protektorats (1912-1955) auf institutioneller Ebene versucht das regionale Handwerk zu beleben und es mit Gestaltungsvorschlägen französischer KünstlerInnen zu erweitern.
Man könnte durchaus behaupten, dass der marokkanische Teppich die „Modern Art“ der Teppichentwicklung ist. Wesentliche Verwandtschaftspotentiale sind dabei in der Zweidimensionalität von Bild und Teppich zu erkennen. Ebenso liegen Verbindungen in der Abstraktion und im Fehlen perspektivischer Darstellung. Gemeinsam mit der Monochromie entsteht daher der Eindruck der Reduktion, der Auflösung von Formen und der völligen Neudeutung eines traditionellen Kanons. Sich kreuzende Linien, Schachbrettformationen, Rechtecke, Rhomben, Punkte und monochrome Flächen, die manchmal an die traditionelle Symbolsprache anknüpfen oder einfach aus formalen Gründen angewandt werden, bilden ein gestalterisches Vokabular, das auf Wahrnehmungsgesetzmäßigkeiten bzw. Figur-Grund-Beziehungen zurückzuführen ist. In der genuinen Kunst des Orientteppichs wurde das Problem der Handhabung von Farbe in der Zweidimensionalität perfektioniert und gelangte im 17. Jahrhundert im persischen Safawiden Teppich zur Höchstform. Dem westlichen, vom Modernismus geprägten Blick folgend, erweist sich der marokkanische Teppich konsequenterweise als dessen weitestreichende Auflösung bzw. Abstraktion. Die freien Formen und Farbgestaltungen folgen dabei nur mehr bedingt den traditionellen Formulierungen und fügen sich stattdessen mehr und mehr einer allgemeinen, vom Globalisierungsgedanken getragenen Formensprache.
Zu alldem darf man die Multifunktionalität eines Teppichs nicht vergessen.
Das Interesse der Moderne an den Teppichen scheint ein selbstverständliches zu sein. Seit den 1960er Jahren versucht man in der Kunst durch Begriffe wie Installation oder Performance den Raum und die Funktion des Kunstwerks zu erweitern. Auch die Grenzerweiterungen in Bezug auf etablierte Kategorien, die durch die westliche Kunst vollzogen wurden, sind innerhalb der Teppichentwicklung selbstverständlich. Teppiche sind zwar auch Orte der Schaulust, gleichzeitig aber stehen sie jenseits des sichtbaren Gemäldes, der taktilen Skulptur und des gebauten Raumes. Sie sind Bilder zum Betrachten und zum Betreten. Sie erfüllen im nomadischen Kontext auch die Zwecke des Bedecken und Einhüllens und werden so zu multifunktionalen und multisensualen.
Die Galerie Reinisch Contemporary zeigt in dieser Ausstellung Beispiele zweier marokkanischer Herkunftsregionen – Azilal und Ourika –, die besonders weit von traditionellen Motivstrukturen befreit erscheinen und so eine verblüffende Nähe zu Bildwerken der modernen Malerei aufweisen.
Es ist somit nicht verwunderlich, wenn Sie im konkreten Fall das Gemälde „Der Schrei“ von Edvard Munch aus den Jahren 1893/1910 wiederzuerkennen glauben. Zumindest sind es formale Formationen, die unser westlich geprägtes visuelles Bewusstsein zum konkreten Bild verdichten.
Günther Holler-Schuster